Samstag, 28. Oktober 2017

Aufklärung, Fortschritt und Humanität versus Religion und Aberglaube

Der fiktive Erzähler der Geschichte vom "Schimmelreiter" mutet seinem Hörer was zu: "Nun freilich", sagte der Alte,[...]"will ich gern zu Willen sein; aber es ist viel Aberglaube dazwischen, und eine Kunst, es ohne diesen zu erzählen." Theodor Storm, Der Schimmelreiter; Bibliothek der Erstausgaben (1888)6.Auflage 2006, S.15  Der so Angesprochene respondiert (und der Leser soll da mit einstimmen): "Ich muß Euch bitten, den nicht auszulassen",[...]"traut mir nur zu, daß ich schon selbst die Spreu vom Weizen sondern werde." (S.15)
Damit ist dem Leser ein vermeintlich klarer Schlüssel des Interpretierens dieser Novelle. Das der Novelle in dieser Ausgabe beigefügte Nachwort deutet dann auch von daher die Novelle als das Ringen zwischen Aufklärung, technischem Fortschritt  und der Humanität auf der anderen Seite, exemplifiziert am Konflikt zwischen dem neuen Deichgrafen und seiner noch im Aberglauben verharrenden Umwelt.
Die zu Grunde liegende Erzählung ist einfach: Der neue Deichgraf setzt gegen mancherlei Widerstände den Bau eines neuen Deiches durch, der anders konzipiert als der alte mehr Schutz vor den Sturmfluten verspricht.Als dann aber der Deichgraf beim alten Deich Schäden entdeckt, läßt er sich davon abhalten, hier gründlich zu sanieren. Die Katastrophe folgt: Der alte Deich bricht an dieser Stelle und der Deichgraf kommt mit seinem Schimmel zu Tode, aber auch seine Frau mit ihrem Kinde. 
Aber diese Grunderzählung wird nun umrahmt von einer anderen, daß man den Deichgrafen nach seinem Tode auf den Schimmel reiten sieht, gerade wenn Sturmfluten drohen. Der Fremde, dem die Geschichte des Schimmelreiters erzählt wird, meinte nämlich auch, einen Geisterreiter gesehen zu haben in dem Unwetter, das ihn in das Gasthaus trieb. Dort wird ihm nun erzählt, was es mit diesem Schimmelreiter auf sich hat, den er gesehen hat. Das "Abergläubige" ist also nicht nur in der Erzählung des fiktiven Erzählers präsent, sondern auch in der Rahmenerzählung, warum überhaupt die Geschichte Hauke Haiens erzählt wird.
Nun zum Kern des Aberglaubens: "Als ich Kind war",[...]hörte ich einmal die Knechte darüber reden; sie meinten, wenn ein Damm dort halten solle,müsse was Leibigs da hineingeworfen und mit verdämmt werden; bei einem Deichbau auf der andern Seite, vor wohl hundert Jahren, sei ein Zigeunerkind verdämmet worden, das sie um schweres Geld der Mutter abgehandelt hätten; jetzt aber würde wohl Keine ihr Kind verkaufen!" (S.82) Das Alter, einst, vor langem garantiert hier die Wahrheit dieser Opferpraxis.Dagegen stünde dann der moderne Deichgraf, mit euklidischem Weltbild, der eben nach langem Forschen und Berechnen eine andere Anlage des Deiches durchführt: So und nicht durch ein Opfer eines Lebendigen wird der Deich gesichert. So rettet Haien auch einem Hund das Leben, Deicharbeiter ertränken wollten als Opfer für den Deich. 
Der Herausgeber betont dann noch, daß Theodor Storm, am 7.Juli 1888 "ohne kirchliche Zeremonien" beigesetzt wurde. (S.177).Storm wird so in dem Nachwort selbst als Vertreter eines aufgeklärten Humanismus verstanden, der so in dem Deichgrafen seine literarische Entsprechung findet. 
Nur, ist das nicht alles eine maßlose Versimplifizierung des Gehaltes der Novelle? Wäre das Werk dann wirklich der Hochkultur zuzurechnen, wenn es nach diesem simplen Schwarz-Weiß- Schema gestrickt wäre?  
Aber was betet der Deichgraf angesichts seines nahen Todes, als er von den Sturmfluten in den nassen Tod gerissen wird: "Herr Gott, nimm mich;verschon die Andern!" (S.157). Mit seinem Pferd stürzt er sich selbst in die Fluten, in den Tod. (S.157)Wie paßt denn nun dies Gebet zum aufgeklärten Deichgrafen? Dem liegt eine komplexe religiöse Vorstellung zu Grunde, daß a) Gott zürnt, daß er deswegen Menschen jetzt mit der Sturmflut straft und daß b) ein Mensch sich Gott als Opfer darbringen kann, daß Gott den strafe und so die Anderen, die Gott eigentlich strafen wollte, verschont. Und was ist dann von dem letzten Satz der Erzählung zu halten: "warf noch die einsame Leuchte aus dem Kirchthurm ihre zitternden Lichtfunken über die schäumenden Wellen." (S.157)Das Licht der Kirche fällt auf den Ort des Opfers. In der Rahmenerzählung heißt es dann, daß der neue Deich, nach seinem Erbauer benannt, jetzt immer noch hält, daß keine Sturmflut ihn zerstören könnte. 
Dies Ende mit dem Opfertod paßt nun einfach nicht in das Schwarz-Weiß- Deutungsschema des Kampfes der Aufklärung, der Humanität wider den Aberglauben. So aufmerksam geworden fallen auch andere Passagen auf, die nicht so recht in dies Schema passen wollen : Haien hatte den Kater einer älteren Frau getötet. Sie verflucht darauf ihn: " Du sollst verflucht sein! Du hast ihn [den Kater] todtgeschlagen, Du nichtsnutziger Strandläufer; Du warst nicht werth, ihm seinen Schwanz zu bürsten!" (S.26) Die Ehe Hauke Haiens blieb lange kinderlos, dann kam doch noch ein Kind, aber es war ein Mädchen, das immer ein Kind bleiben würde, es war geistig behindert. Im Nachwort wird nun die väterliche Liebe gerade zu diesem behinderten Kind als das humanistische Moment dieser Novelle herausgestrichen. Aber wie kommentiert die Frau, deren Kater der Deichgraf getötet hatte dies: "Du strafst ihn, Gott, der Herr! Ja,ja, Du strafst ihn!" (S.126)

Man könnte sagen, daß hier eine aufklärerisch humanistische Erzählebene immer wieder konterkariert wird durch eine, die bestimmt ist durch religiöse Vorstellungkomplexe, der des Opfers, der des strafenden Gottes, des Fluches und mehr. Daß Beide in einem Text präsent sind, ohne daß eine Entscheidung getroffen wird, wie hier der Spreu vom Weizen zu trennen sei, macht vielleicht das Niveau dieses Textes aus. Zu beachten ist dabei,daß der Widerstreit sich auf die Kernvorstellung alles Religiösen kapriziert,die des Opfers! Was für jeden Humanisten und Aufgeklärten das Irrationale schlechthin der Religion ist, ihr abergläubiges Zentrum wird in dieser Novelle in das Zentrum der Handlung gelegt, das Opfer des Deichgrafen.    

Sollte nicht in diesem  Sinne die Qualität dieser Novelle gerade darin bestehen, daß sie nicht einseitig Partei ergreift für die Aufklärung gegen den Aberglauben und die Religion, aber auch nicht Partei ergreift für den Aberglauben. Daß dies in der Schwebehalten das Bestimmende der Novelle ist? Wie immer nun auch der Privatmensch Thodor Storm es mit der Religion und dem Aberglauben gehalten haben mag, die Novelle selbst läßt die Frage offen- und vielleicht kann man deshalb den "Schimmelreiter" immer wieder neu lesen, weil eben da kein klares : Was lehrt uns diese Fabel? herausinterpretierbar ist.  So wäre es die Kunst des Lesens dieses Textes, hier nicht Spreu von Weizen trennen zu wollen, sondern der Realismus dieser Novelle bestünde gerade in der Nichtauflösbarkeit des Widerstreites zwischen einer aufgeklärten und einer religiös-abergläubischen Weltsicht.  

Zusätze:
1."Ähnlich wie in Fontanes Ballade Die Brück`am Tay (1880) sieht Begemann beim Schimmelreiter eine Wiederkehr des Mythischen in einer scheinbar durchrationalisierten Welt, die deren Gefährdung, Labilität und buchstäbliche Bodenlosigkeit demonstriert. Beim Schimmelreiter wird das insoweit auf die Spitze getrieben, als Hauke Haien, als technikfixierter Aufklärer selbst zum  Wiedergänger wird."(zitiert nach Wikipedia, Storm, Schimmelreiter)


2. "Literaturrichtung des Realismus, als deren Vertreter auch Storm gilt, versucht ein möglichst genaues Abbild der Wirklichkeit in all ihren Erscheinungsformen zu schaffen, sodass das Unheimliche und Fantastische zu Recht neben wissenschaftlichen Erkenntnissen steht."
Zusammenfassung von Mia Sabinger /  Quelle: Der Schimmelreiter-Zusammenfassug. https://www.inhaltsangabe.de/storm/der-schimmelreiter.

Anbei: Wer diese Novelle mit Genuß lesen möchte, dem sei wärmstens diese Ausgabe empfohlen, denn den im Jahre1888 erschienenden Text in der Orthographie der Jetztzeit zu lesen, raubt ihm etwas des individuellen Stiles des Autoren, zu dem eben auch seine Orthographie gehört.        

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