Dienstag, 4. Oktober 2016

Wozu Dichtung? Lesefrüchte

"Dem Leben in all seinen Formen eine Alternative zu bieten, eine ständige Opposition gegenüber dem Leben, eine ständige Zuflucht vor dem Leben zu sein: Das ist die höchste Mission des Dichters auf dieser Erde. Howard Philipps Lovecraft hat diese Mission erfüllt". So urteilt Michel Houellebecq über Lovecraft in seinem Essay: "Gegen die Welt, gegen das Leben, 2011, S.126. Ein befremdliches Resümee für einen Schriftsteller, dessen Romane doch selbst durch ihren radicalen Realismus sich auszeichnen. Stehen Balzac und Flaubert nicht Houellebecq näher als Edgar Allen Poe und Lovecraft? Vielleicht muß der Ton auf die "höchste Mission" gelegt werden im Sinne von, daß es für die Literatur dann auch weniger hohe Aufgaben gibt.
Oder ist hier ganz anders zu denken, daß durch dies Votum die Differenz von der realistischen und der phantastischen Literatur aufgehoben werden soll? Jede literarische Welt wäre so nicht eine Widerspiegelung der (gesellschaftlichen) Wirklichkeit, wie es im Sinne von Georg Lukacs zu urteilen wäre, sondern eine Kunstwelt, die ob ihrer Künstlichkeit schon eine Alternative zur Realwelt wäre. Einfach gesagt: Ein gemalter Baum ist eben kein realer Baum. 
Im Sinne von Houellebecq könnte man dann denken, daß der Mensch sich durch und in der Dichtung ihm gemäße Lebenselten schafft, weil die reale eine ihm nicht gemäße ist. Die Philosophie benutzte dazu einst den Begriff der Entfremdung, die Theologie von der Exilsexistenz des Erdendaseins des Menschen nach dem Fall. Es scheint, als wenn das damit Gemeinte, nachdem es im philosophischen wie theologischen Diskurs sein Heimatrecht verloren hat, in der Ästhetik wieder auftaucht als das Gefühl, daß das Leben, so wie es ist, grundlegend falsch ist, und daß dies die Dichtung zum Ausdruck bringt. 
Trotzdem befremdet dies Urteil Houellebecqs doch. Assoziert man den nicht beim Begriff der Alternative einen positiven Gegenentwurf zur besehenden Realität- und die findet sich nun wahrlich nicht in Lovecrafts Werken. Das Leben erscheint doch in seinen Werken eher wie etwas sehr Fragiles, wie ein Tanz auf dem Eis, das in jedem Augenbick zu schmelzen droht, sodaß das Leben dann in den Urfluten unter dem Eis untergeht. Daß alle Lebensordnung so zerbrechlich ist, immer von der Auflösung und der Vermischung bedroht ist, zeichnet doch das Lebensgefühl seiner Werke aus.
Und doch hat Houellebecq wohl etwas Wahres getroffen in dieser Aufgabenbestimmung der Dichtkunst, daß die Dichtung als Dichtung ein Nein zum Realen ist, indem es dem Kunstgenießenden eine künstliche Lebenswelt schafft.    
   

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