Samstag, 22. Oktober 2016

Luther und das Ende der Religion?

Luther- oder der Tod der Religion?

  1. Das Herzstück lutherischer Theologie

Luther selbst sah in seiner Rechtfertigungslehre nicht nur das Herzzentrum seiner Theologie, sondern auch den Artikel, mit dem die Kirche steht und fällt. So war ihm neben seinem Katechismus seine Schrift: „ De servo arbitrio“ die wichtigste, denn in ihr fundierte er seine Rechtfertigungslehre ab ovo. Ja, diese beiden Schriften sollten der Nachwelt überliefert werden. Ob Luther wirklich Freude daran gefunden hätte, daß statt dieser beiden Werke nun faktisch fast alles, was er je geschrieben hat, in Luther Gesamtausgaben verewigt worden ist, darf bezweifelt werden, weil so in den Massen des Publizierten das Herzstück seines theologischen Lebens unterzugehen droht.
Bezeichnend ist nun, daß in aktuellen Debatten um und über Luther dies Zentrum kaum noch expliziert wird und daß die dafür wichtigste Schrift, die wider den freien Willen, in der Luther seinen humanistischen Kritiker Erasmus von Rotterdam lobte, daß er in seinem Ja zum freien Willen wirklich das Zentrum der lutherischen Rechtfertigungslehre erfaßt und kritisiert habe, überhaupt nicht mehr zur Kenntnis genommen wird.
Aber wie steht es nun um dies Zentrum, Luthers Herzensanliegen? Man kann H.Hecker nicht widersprechen, wenn er lapidar aber treffend formuliert:"Zum andern erscheint den heutigen Christen Luthers existentielle Frage, die zu seiner Rechtfertigungslehre führte, bedeutungslos: Wie kriege ich einen gnädigen Gott? Bei der verbreiteten Auffassung im zeitgeistigen Christentum, nach der man allein schon wegen der Barmherzigkeit Gottes (theologisch als umfassender Heilwille Gottes für alle formuliert) in den Himmel komme, ist Luthers Lebensfrage irrelevant (und damit auch seine Antworten in der Rechtfertigungslehre)." H. Hecker, Kardinal Kaspers ökumenische Allgemeinplätze, Kath info vom 15.10.2016. Was bleibt von Luther, wenn das Herzstück seiner Theologie selbst für die heutigen Lutheraner völlig irrelevant geworden ist?

  1. Luthertum heute

Zur Veranschaulichung:
Die 10 Leitsätze
Die „Evangelische Kirche“ in Berlin Brandenburg stellt uns nun mustergültig ein Dokument vor Augen, wie der christliche Glaube reformatorischer Tradition heute zeitgemäß umgeformt sich selbst bestimmt. Wohl in Anlehnung an die 10 Gebote wird hier die Essenz eines auf der Höhe der Zeit sich gestaltenden Christentumsverständnisses dargelegt. Lesen wir den Text unter der Fragestellung, inwieweit hier Luthers Zentralanliegen, das Herzstück seiner Theologie noch präsent ist. Zitiert nach:https://www.ekbo.de/glauben/unsere-grundlagen-bibel-und.../10-leitsaetze.html
Anlässlich der Jahrtausendwende hat die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg gefragt, worin die Evangelischen Christinnen und Christen den Inhalt des Evangeliums sehen, das sie unseren Mitmenschen weitersagen wollen. Das Ergebnis sind zehn Sätze, in denen so knapp wie möglich formuliert wird, was uns an unserer Existenz als Christen und an der Gemeinschaft in unserer Kirche heute und morgen wichtig und kostbar ist.
1. Christen vertrauen auf Gott, den Schöpfer allen Lebens.
Bei ihm suchen sie Wahrheit und erfülltes Leben. Ihr Glaube befähigt zu einem Leben, in dem die Hoffnung größer ist als die Angst.
2. Christen halten sich zu Jesus Christus.
Sein Leben ist Gottes Liebeserklärung an die Welt. Auch angesichts von Bedrohungen vielfältiger Art ist der christliche Glaube lebensbejahend und menschenfreundlich.
3. Christen hoffen auf Gottes lebendigen Geist.
Er bewegt und erneuert. Er macht frei. Darum treten Christen dafür ein, dass nichts Menschliches vergöttert wird - weder Rasse noch Nation, weder Fortschritt noch Erfolg, weder Leistung noch Macht noch Gewinn.
4. Christen halten daran fest, dass alle Menschen als unverwechselbare Geschöpfe Gottes geachtet werden.
Kein Mensch ist mit seinen Taten oder Untaten, mit seiner Leistung oder seinen Fehlleistungen gleichzusetzen. Das ist der Kern aller Menschlichkeit in der Gesellschaft.
5. Christen können Schuld bekennen und um Vergebung bitten. Darin gründet ihre Freiheit.
Aus dieser Freiheit fließt die Bereitschaft, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen.
6. Christen vertrauen darauf, dass Gottes Liebe sie über den Tod hinaus trägt und ihrem Leben Sinn gibt, auch wenn ihr Weg durch Krisen und Leiden führt.
Sie erwarten die neue Welt Gottes und mit ihr die Antwort auf ungelöste Fragen.
7. Christen wollen zur Achtung unter den Menschen, zur Gerechtigkeit und zum Frieden beitragen.
Sie setzen sich für ein gerechtes Miteinander von Frauen und Männern, von Jungen und Alten ein. Sie widersetzen sich der wachsenden Ungleichheit in der einen Welt.
8. Christen leben vom Erbarmen Gottes.
Darum treten sie für Rücksicht gegenüber Schwächeren und Recht von Fremden ein. Sie unterstützen Chancen eines Neuanfangs für die, die schuldig geworden sind oder sich verrannt haben.
9. Christen wissen sich als Teil von Gottes Schöpfung.Sie bemühen sich, pfleglich mit ihrer natürlichen Umwelt umzugehen. Sie tragen Sorge für die Umwelt der nachfolgenden Generationen.
10. Christen sind angewiesen auf die Gemeinschaft in der Kirche.
In der Begegnung mit der christlichen Botschaft finden sie Rückhalt und Orientierung im Leben und im Sterben. Diese Botschaft weiterzusagen, sind sie beauftragt. Die Kirche bietet allen Menschen Raum für Stille und Besinnung, für Feier und Aktion, Begegnung und Dialog.“



Die zehn Punkte wurden hier extra vollständig zitiert, um zu zeigen, daß hier auch nicht die kleinste Spur lutherischer Theologie noch gegenwärtig ist. Und die Christologie ist so verdünnt, daß man das kaum noch als Christologie zu bezeichnen wagt. Jesu Leben sei Gottes Liebeserklärung an die Welt; mehr weiß man hier über Jesus Christus nicht zu sagen! Genaugenommen wird die traditionell lutherische Rechtfertigungslehre ganz in die Lehre von Gott, dem Schöpfer verlegt im Sinne von, daß Gott als Schöpfer seine Schöpfung und den Menschen als Teil der Schöpfung liebe. Das habe eben Jesus in seinem Leben zum Ausdruck gebracht. Und der christliche Glaube vertraut nicht mehr darauf, daß der Heiland für meine Sünden gestorben ist, sodaß ich wirklich gerechtfertigt bin. Der Glaube ergreift nach Luther das am Kreuze objektiv gewirkte Heil, jetzt ist er nur noch die Anerkennung, daß Gott als Schöpfer die Menschen als seine Geschöpfe liebt und daß so der Glaube lebensbejahend ist. Jesus Christus ist in diesem Christentumsverständnis genau genommen überflüssig, denn er lebt nur das, worauf wir schon vertrauen könnten, glaubten wir allein an Gott, der als Schöpfer seine Schöpfung liebt.
Auffallend ist, daß Luthers: „Allein der Glaube, allein Jesus Christus“ überhaupt keine Rolle mehr spielt, ja Jesus Christus für das Heil irrelevant ist, denn er verkündet in seinem Leben nur, was unabhängig von ihm wahr ist. Der Glaube dagegen wird rein monotheistisch aufgefaßt als das Vertrauen auf den Schöpfergott, der seine Schöpfung liebt. Diese Verschiebung weg von Luthers Christozentrismus zu einer Zentrierung auf den Glauben als Gott als dem Schöpfer ist signifikant. Diese Verschiebung verändert nun auch völlig das Verständnis des Glaubens: Er ist nicht mehr das am Kreuze erwirkte Heil ergreifender Glaube sondern das Vertrauen auf den Schöpfergott- ein rein monotheistischer Glaube. Daraus erklärt sich dann auch die lutherische Ablehnung der Mission unter Juden und Mohammedanern, weil ja auch die monotheistisch an den Schöpfergott glauben. Der Glaube an Jesus Christus wird ja in diesen 10 Punkten nicht als zentral angesehen, sondern nur die Ausrichtung an seiner gelebten Nächstenliebe als Liebe zur Welt.
3. Die Selbstzerstörung der lutherischen Rechtfertigungslehre
In Hinsicht auf den ökumenischen Diskurs stehen wir so vor einem eigentümlichen Problem, daß diskutiert wird, ob die evangelische Rechtfertigungslehre mit der katholischen kompatibel sei, ob Luthers theologisches Anliegen ein Heimrecht in der Katholischen Kirche habe könnten, während die lutherische Kirche selbst mit dem Herzstück lutherischer Theologie nichts mehr anzufangen weiß. Zu fragen ist nun, ob dies einfach ein Abfall von der Lehre Luthers ist, oder ob dieser Ausgang sozusagen das konsequente Ende einer Fehlentwicklung von Anfang an bildet, so wie ein Ball, auf einer schiefen Ebene gelegt, erst aufhört zu rollen, wenn er das Ende der schiefen Ebene erreicht hat. Die wissenschaftliche Theologie neigt dazu, Veränderungen in der Theologie als verursacht durch externe Faktoren zu denken: Weil sich die Umwelt der Theologie geändert habe,mußte sie auch sich ändern als Einpassung an den veränderten Kontext. Daß aber ein Denken aus sich heraus weiterentwickelt und sich verändert als Eigenbewegung wird dabei vernachlässigt.

Abbreviaturhaft ist zu sagen, daß Luther selbst seine eigene Rechtfertigungslehre in dem Versuch, sie konsequent auszuformulieren, nichtete. Das ereignete sich in seiner Schrift: „De servo arbitrio“. Luthers Rechtfertigungslehre lebte bis dahin, von Paulus ausgehend aus der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium. Das Gesetz Gottes sagt dem Menschen, was er zu tun hat, um vor Gott gerecht zu werden und das Evangelium verheißt ihm: Glaube und du bist gerecht. Das Wort Gottes war Luther so immer nur als zweifaches, entweder als Gesetz oder als Evangelium. Nur als Evangelium bringt es dem Menschen das Leben, als Gesetz tötet es ihn, weil der Mensch notwendig an ihm scheitern muß, weil er das, was er soll,nicht kann. Das besondere war Luthers spezifische Kritik des Gesetzes, daß nicht aus dem: Du sollst! ein, also kann ich, geschlossen werden darf. Das Gesetz Gottes habe nämlich in seiner Primärfunktion im theologischen Gebrauch die Aufgabe, den Menschen als Sünder zu konstituieren, der so erkennt, daß nur das Evangelium ihn erlösen kann.Warum kann der Mensch kraft seines freien Willens nicht das, was das göttliche Gesetz von ihm um der Gerechtigkeit vor Gott willen fordert? Das war die Frage, die Luther dazu veranlaßte, die Kritik des freien Willens zum Zentrum seiner Theologie zu erheben.
De servo arbitrio“ gibt nun die theologische Antwort, daß der Mensch keinen freien Willen haben könne, weil Gott als Allwirksamer alles determiniere, sodaß der Mensch immer nur wirke, was Gott durch ihn wirkt. Damit kommt Luther der Mensch als Subjekt, der für sein Tun und Unterlassen eigenverantwortlich ist, abhanden, denn er ist nun weder noch der Täter seiner bösen wie seiner guten Werke. Auch glaubt er nicht mehr, sondern Gott durch ihn. Die Pointe dabei ist, daß Luther die paulinische Aussage 1. Korinther 15, 10: „doch nicht ich, ondern die Gnade mit mir“ (mecum) interpretiert als die Gnade durch mich ohne mein Mitwirken. Zu diesem deterministischen Theozentrismus trieb ihn der Versuch, seine Rechtfertigungslehre auf dem Gebiet des freien Willens gegen Erasmus von Rotterdamm zu verteidigen und letztzubegründen.
Was bleibt aber übrig von der Rechtfertigung des Menschen, wenn der Mensch in dieser Lehre selbst zum Verschwinden gebracht wird als ein für sein Leben verantwortliches Subjekt. Wenn aber der Mensch nun doch wieder Subjekt werden soll und nicht nur ein Instrument oder Werkzeug, durch das Gott handelt, dann muß ihm ein freier Wille wieder zugeschrieben werden, sodaß statt de“Sola Gratia“ ein Geschehen tritt, in dem die göttliche Gnade mit der menschlichen Natur zusammen das Heil des Menschen wirkt. Diese Kooperation will Luther aber um des Allein aus Gnaden willen ausschließen. Es darf eben auch nicht heißen, daß, weil der Mensch an das Evangelium glaubt, er vor Gott gerechtfertigt sei, wenn der Glaube dann auch ein Entscheiden und eigenverantwortliches Wirken des Menschen ist. Aus dem: Nicht aus Werken sondern allein aus Glauben wird der Mensch vor Gott gerecht, wird so,daß der Mensch allein durch Gott gerechtfertigt wird. Aus dem Christozentrismus wird so schon bei Luther ein theozentrischer Determinismus.
Dieser theozentrischer Determinismus setzt sich dann in der protestantischen Theologie durch, zuerst in der calvinistischen Erwählungslehre, Luther konsequent zu Ende denkend, daß Gott von Ewigkeit an die einen Menschen zum Heil und die anderen zum Unheil erwählt hat und wird dann über die Karl Barth- Rezeption bei den Lutheranern nach 1945 zum Allgemeingut des Luthertums. Jetzt galt, daß Gott von Ewigkeit her sich dazu bestimmte, als Liebe alle Menschen zu lieben und sein Wirken in der Welt will nur noch diese Allliebe bezeugen. Aus der lutherischen Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, die die ersten Lutheraner mit ihrer Unterschrift unter das Barmer Bekenntnis 1934 aufgaben zugunsten des Glaubens an das eine Wort Gottes wurde das Indikativ-Imperativ-Schema: Gott liebt Dich und nun liebe Du auch Gott, Dich, die Mitmenschen und die Schöpfung. Jetzt konnte der Mensch wieder Subjekt sein, eigenverantwortlich für sein Leben, weil der Determinismus, der den Menschen nicht mehr Subjekt sein lassen konnte, jetzt in der Vorstellung, daß Gott zu jedem Menschen sein Ja sagt , aufgehoben ist. Der Mensch ist sozusagen durch Gott selbst zum Geliebtwerden durch Gott determiniert. Weil er sich so bedingungslos bejaht weiß, kann er sich nun ganz darauf kaprizieren, als Geliebter von Gott zu leben. Die Frage: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?, hat dieser theozentrischer Determinismus immer schon respondiert, bevor diese Frage sich erhebt: Daß Gott ist, inkludiert jetzt notwendig, daß er als alle Menschen Liebender zu denken ist. Fällt so der Mensch als religiöses Subjekt aus, denn er ist unabhängig und vor all seinen religiösen Praxen immer schon der von Gott Bejahte, so kann er nun ganz Weltmensch sein, der, der sich die Humanisierung der Welt zu seiner Aufgabe gemacht hat. Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung, das sind nun die Aufgaben des religionslos gewordenen Christen. Denn nur solange er frägt: Was habe ich zu tun, damit mir Gott gnädig ist?, lebt er religiös. Wenn aber die Theologie ihm darauf antwortet: Nichts, weil Du immer schon ein von Gott Bejahter bist, dann bleibt für ein gelebte Religion kein Platz mehr- seine Lebenspraxis hört auf, religiös zu sein, sie wandelt sich in einen theozentrischen Humanismus. Und genau in diesem Humanismus steht das von Luther negierte Subjekt wieder auf, das er im religiösen Bereich nicht sein durfte und auch jetzt nicht ist.
Luthers Eskamotierung des Menschen als Subjekt drängte so zu einer Wiederauferstehung des Verdrängten und zwar so, daß daran festgehalten wird, daß der Mensch allein durch Gott gerechtfertigt wird, jetzt in der Vorstellung, daß Gott von Natur aus alle Menschen liebe, sodaß nun der Mensch im Weltlichen Subjekt wieder sein kann, weil hier sein Subjektsein gleichgültig ist für sein Geliebtwerden durch Gott.
Das „Allein aus Gnade“ schlägt so um in ein rein naturalistisch vorgestelltes Gottesverhältnis des Menschen: Es ist die Natur Gottes als reine Liebe, den Menschen zu lieben und der Mensch wird von Gott geliebt, weil es seine Natur, sein Wesen ist, Gottes Geschöpf zu sein. Dieser Naturalismus determiniert genaugenommen Gott. Er kann gar nicht anders als denn lieben. Damit wird die Frage nach einem gnädigen Gott nicht nur überflüssig, sondern sinnwidrig.Denn wenn Gott ob seiner Natur natürlich liebt, kann diese Liebe nicht mehr als ein Akt göttlicher Gnade verstanden werden.Die in „De servo arbitrio“ negierte Natur avanciert so zu der Bestimmung des Verhältnisses Gottes zum Menschen als ein rein natürliches ohne die Vorstellung der Gnade. Der Taumel von einem Extrem in das Andere ist dabei die Folge dieses lutherischen Extremismus.

  1. Was bleibt? Ein religionsloses Christentum

Was bleibt von der lutherischen Theologie? Von seinem Herzstück nichts außer diesem theozentrischen Determinismus der Allliebe Gottes und die Ethisierung der christlichen Existenz, die nicht mehr eine religiöse sein kann. Es ist kein Zufall, daß, so sehr heutige Lutheraner mit dem Herzstück Luthers nichts mehr anzufangen wissen, sein Angriff auf das Zentrum der Religion, sein Nein zum Meßopfer als dem Herzstück der christlichen Religion lebendig geblieben ist. Die eminente Bedeutung der Abschaffung des Meßopfers durch Luthers revolutionäre Abendmahlstheologie wird erst angemessen erfaßt, wenn man sich Papst Leo XIII. Diktum vor Augen hält: „Das Wesen und die Natur der Religion selbst enthüllt die Notwendigkeit des Opfers...Und wenn man die Opfer entfernt, kann eine Religion weder sein noch gedacht werden. Das Gesetz des Evangeliums ist nicht geringer als das alte Gesetz; im Gegenteil, sogar noch viel hervorragender, weil es das überreich vollendete, was jenes begonnen hatte. Die im Alten Testament gebräuchlichen Opfer wiesen aber schon auf das am Kreuze vollzogene Opfer voraus, lange bevor Christus geboren wurde: Nach seinem Aufstieg in den Himmel wird eben dieses Opfer im eucharistischen Opfer fortgesetzt.“ Enzyklika: Caritatis studium ,
Denzinger-Hünermann, 3339.
Luther befreite sozusagen das Christentum davon, Religion zu sein, indem er anfing, sie zu ethisieren. Das ist die positive Seite der negativen, daß das Christentum entreligiösiert wurde durch Luthers Nein zu dem religiösen Werk schlechthin, dem Opfer. Aus Luthers Rechtfertigungslehre „Allein aus Glauben“ ergibt sich für ihren Reformer die Notwendigkeit des Neins zum Meßopfer der Kirche. Stattdessen darf der Christ nur noch ein sakramentales Abendmahl feiern! In diesem Sinne ist nun wirklich Kant der Philosoph im lutherischen Geiste, als er die christliche Religion völlig in Ethik auflösen wollte. (Kant: Die Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft)D. Bonhoeffer popularisierte diese Vorstellung dann in seiner Spättheologie unter der Vorstellung eines religionslosen Christentums. Die anfänglich zitierten 10 Punkte als Kompendium heutigen Christentumsverständnisses können so auch als Muster für so ein religionsloses Christentum gelesen werden.

Luthers Kritik der guten Werke ist ja nicht als Absage an ein moralisches Verhalten gedacht, sondern faktisch primär als Kritik der religiösen Praxis des Opferns, des Fastens , des Betens als verdienstliches Tun. Wenn jede religiöse Praxis Antwort ist auf die lutherisch gestellte Frage: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“, so soll jetzt der Glaube allein die Antwort sein ohne eine religiöse Praxis. Die religiöse Praxis wird dann ersetzt durch eine Praxis der Nächstenliebe, die nicht mehr religiös ist, weil sie nicht mehr die Antwort ist auf die lutherische Frage, sondern die Antwort sein soll auf Gottes Zusage, daß der Mensch ein von Gott Bejahter ist. Weil der Mensch sich nicht mehr um sein Angsehensein vor Gott zu sorgen braucht, kann er jetzt ganz weltmännisch sich nur noch sorgen um die Frage: Wie schaffe ich mir wohlwollende Mitmenschen? Und so ersetzt die Menschenfurcht als Sorge um, was der Nächste über mich wohl denken mag, die Sorge um Gottes Urteil über mich. Sagte einst Bismarck, daß wir Deutschen nichts fürchten als Gott allein, so fürchtet der in Gottes Liebe Bejahte nur noch seine Mitmenschen, denn von der Gottesfurcht emanzipierte ihn erfolgreich die Vorstellung von Gott als Allliebender!
Das genuin lutherische Konzept der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, als dem tötenden Gesetz und dem erlösenden Evangelium ist so umgeformt worden zu dem Indikativ-Imperativ-Schema. Dort, wo die religiöse Praxis ihren Ort hatte, setzt dies Schema einfach: Gott sagt ja zum Menschen, den Indikativ, um dann den Imperativ folgen zu lassen als Hauptaussage: Weil der Mensch ein von Gott Bejahter ist, soll und hat er....! Diese so konzipierte Praxis ist jetzt selbst keine genuin religiöse mehr, sondern eine humanistische, letztbegründet in dem Glauben, daß jeder Mensch ein von Gott Bejahter ist. Denn diese Praxis ist ja nicht mehr die Antwort auf die Frage: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?, sondern setzt das Geliebtwerden durch Gott voraus und zwar so, daß Gottes Liebe dem Menschen unabhängig von seiner Praxis der Nächstenliebe gilt.

Eigentlich geht man immer davon aus, daß die Säkularisierung in Europa nach dem innerchristlichen Religionskrieg des 17.Jahrhundertes begann als Versuch der Zurückdrängung der christlichen Religion aus dem öffentlichen Leben ob seines Konfliktpotentiales in Folge der konfessionellen Zerspaltung. Das ist sicher richtig, aber es sollte nicht übersehen werden, daß die lutherische Rechtfertigungslehre mit ihrer Kritik der religiösen Werke und mit der Lehre, daß es allein auf den Glauben ankäme und der Verneinung des Meßopfers der Säkularisierung Vorschub geleistet hat. Am Ende steht dann ein religionsloses Christentum, das faktisch nur noch ein mit einem Gottesglauben fundierter Humanismus ist. Und genau so präsentiert sich ja heute auch das moderne Luthertum. Das Bedrückende ist nur, daß im Geiste der Ökumene nun auch diese Entwicklung der Katholizismus nachahmen möchte. Die sinkenden Gottesdienstbesucherzahlen sind dafür ein Indiz: Nicht auf die religiöse Praxis kommt es beim Christsein an, sondern allein darauf, moralisch anständig zu leben.


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